Vor einigen Wochen gab es einen wunderbaren Moment in meinem Leben, als ich hörte, wie mein Sohn zu einem Freund sagte: „Meiner Mutter ist es egal, mit welchen Noten ich nach Hause komme.“ Ich kann Euch kaum beschreiben, was ich da fühlte: Solch eine Freude! Konfetti-Regen! Denn eine Mutter, die entspannt mit Schulnoten umgeht, war ich nicht schon immer. Im Gegenteil: Es gab eine Zeit, wo ich Noten einen hohen Stellenwert gab, enormen Notenstress hatte und diesen an meinen Sohn weitergab. Das Stress-Level musste erst ein hohes Niveau erreichen, bis ich erkannte, dass es ausschließlich
etwas mit mir zu tun hatte. Es war mein
Stress, der da ablief und es war mein
Problem, um das ich mich kümmern musste.
Ich möchte Euch mit auf den Weg nehmen und von der Zeit erzählen, wo ich dachte, sie werden meinen Sohn wegen schlechter Noten von der Schule schmeißen und ich möchte Euch von einem Werkzeug erzählen, das mir half, mein eigenes Schultrauma zu entdecken und mich vom Notenstress zu befreien, so dass mein Sohn heute zu Recht sagen kann, dass seiner Mutter Noten egal sind.
Fangen wir von vorne an: Die gesamte Grundschulzeit meines Sohnes war geprägt von Leistungsdruck. Selbst wenn er krank war, musste er alle Schulaufgaben nacharbeiten. Ich weiß nicht, wie oft die Lehrerin uns erzählte, mein Sohn sei zu langsam. Ab der 3. Klasse wurde benotet und in der ersten Mathe-Arbeit schrieb er eine 4. Ich selbst hatte in der Schule sehr mit Mathe zu kämpfen, aber bei mir fing das erst in der 7. Klasse an. Wo sollte das hinführen, wenn er schon in der 3. Klasse eine 4 bekam? Ich machte mir große Sorgen und obwohl ich mich erinnerte, wie stressig es war, als meine Mutter damals mit mir Mathe übte, wiederholte ich ein altes Muster, und saß nun selbst entnervt mit meinem Kind und den Mathehausaufgaben am Tisch.
All diese Probleme schienen sich aufzulösen als mein Sohn ab der 5. Klasse auf eine Schule mit musikalischem Schwerpunkt wechselte. Musik war und ist seine Leidenschaft und vom ersten Augenblick an fühlte er sich dort wohl. Die vielen musikalischen Aktivitäten und die familiäre Atmosphäre machten alles andere, was eine Regelschule sonst so mit sich bringt, wieder wett. Sogar in Mathe lief es viel besser.
Bis zu dem Zeitpunkt, als er in der 6. Klasse in Musik plötzlich 4en und 5en kassierte und letzten Endes in der großen Musikarbeit eine 6 schrieb. Eine 6 in Musik auf dieser
Schule! Das ist das Ende, dachte ich.
„Sie werden ihn von der Schule schmeißen!“
In Windeseile spielten sich vor meinen Augen Horrorszenarien ab. Ich sah unseren Traum platzen, sah, wie er die Schule verlassen muss, auf eine „normale“ Schule wechseln und dort leiden würde. Aufgeregt rief ich meine Freundin in Berlin an, die Musiklehrerin ist und sie gab meinem Sohn telefonisch etwas Nachhilfe.
Und dann kam der Moment, der mich komplett wachrütteln sollte. Mein Sohn kam mit der nächsten Musik-Arbeit nach Hause. „Mama ich habe eine 3!“, verkündete er mit glänzenden Augen. Vor Freude strahlend saß er neben mir auf der Couch und zeigte mir, bei welchen Aufgaben er besonders viele Punkte bekommen hatte. Ich aber tippte nur mit spitzem Finger auf die Arbeit und fragte: „Warum hast du hier nur 12 von 20 Punkten?“. Ich schaute nur auf die fehlenden Punkte. Der angsteinflößende Gedanke, dass sie ihn von der Schule schmeißen werden, hatte mich aus irgendeinem Grund noch nicht verlassen. Ich spürte die Angst vom Hals bis zum Unterbauch. Ich wusste nicht, wo sie herkommt, und es war auch kein Raum vorhanden, um darüber nachzudenken, denn sie kontrollierte mich.
Vielleicht denkt nun der eine oder andere: „Eine 3 in Musik? Wo ist denn das Problem? Bei uns hagelt es in den Hauptfächern 5en und 6en. Mein Kind leidet fürchterlich in der Schule. Das
sind echte Schwierigkeiten!
Aber was ist, wenn uns die Angst packt und fest im Griff hat? Dann spielt es keine Rolle, ob es um eine 6 in Mathe oder um eine 3 in Musik geht. Die Frage ist in beiden Fällen: Woher kommt die Angst? Es geht um die Macht und Auswirkung unserer Gedanken und wie wir da aussteigen können, möchte ich an meinem Beispiel erklären.
„Sie werden meinen Sohn von der Schule schmeißen!“
Das war mein angsteinflößender Glaube und als scheinbar logische Konsequenz folgte mein nächster Gedanke: „Ich will, dass mein Kind in Musik Einsen und Zweien schreibt!“ Autsch! Anstatt mich mit ihm zu freuen, erklärte ich ihm, dass das alles noch besser werden müsse.
Er verließ die Couch und ging in sein Zimmer. Da saß ich nun allein und spürte plötzlich einen so großen Schmerz, dass es mir fast das Herz zerriss. Meine eigene Reaktion machte mich zutiefst traurig und ich wusste, dass jetzt wirklich etwas schiefgelaufen war. Das war der Moment, der mich hellwach rüttelte und ich wandte das Werkzeug an, von dem ich Euch jetzt erzählen möchte. Ich hatte damals gerade die Ausbildung zum Coach für The Work of Byron Katie begonnen und wusste, dass es in dieser Situation höchste Zeit für mich war, mir die Fragen von The Work zu stellen. Mit diesen Fragen untersuchst Du Deine stressvollen Gedanken und kannst zu Klarheit und Frieden gelangen und neue Wege und Handlungsmöglichkeiten entdecken.
Ich saß also da, schloss die Augen und startete den Work-Prozess. The Work geschieht in der Stille auf meditative und langsame Weise, so dass die Antworten aus einer tieferen Ebene aufsteigen, und ich lade Euch ein, mitzufühlen.
Wie reagierst Du, was passiert, wenn Du glaubst, sie werden Deinen Sohn von der Schule schmeißen?“
Ich reagiere panisch. Nicht eine Sekunde kann ich durchatmen und in Ruhe auf die Situation schauen. Die Angst, die ich im Brustraum spüre, fühlt sich nicht erwachsen an, und während ich da hinein spüre, werde ich plötzlich mit einem Schlag zurück in meine Kindheit katapultiert. Es tauchen Bilder aus der Schulzeit auf, in der ich mit angehaltenem Atem unterwegs war. Bilder von Lehrern, die mich unachtsam behandelten. Lehrer, die meine Leistungen nicht würdigten, die niemals sagten: „Toll, Ute. Das machst du gut. Weiter so!“, die mich scheinbar eher von der Schule geschmissen hätten, statt mich zu motivieren. Gleichzeitig taucht das Bild meines Vaters auf, der mir Leistung als hohes Gut vorlebte. Mit einer schlechten Note hätte ich mich nicht nach Hause getraut.
Ich rutsche in diesen alten Film, fühle mich hilflos wie damals und kann nicht sehen, dass dieser Film hier und jetzt nicht stattfindet. Ich vermische meinen Schwarzweiß-Film mit dem bunten Film meines Sohnes.
Wie behandelst Du Deinen Sohn, wenn Du glaubst, sie werden ihn von der Schule schmeißen?
Mein Kindheits-Schmerz, den ich damals tief nach unten drückte, ploppt mit aller Gewalt an die Oberfläche. Aber damit bin ich nicht hilfreich für ihn, ich gerate unter Druck und gebe diesen Druck an ihn weiter. Ich sehe nicht, dass der Sprung von der 6 zur 3 tatsächlich ein Riesen-Fortschritt und seine Freude absolut verständlich ist, und dass hier erst einmal gefeiert werden darf.
Wie behandelst Du die Lehrer Deines Sohnes, wenn Du glaubst, sie werden ihn von der Schule schmeißen? Oh, meine Antwort auf diese Frage ist überraschend. Ich sehe seine Lehrer gar nicht, sondern projiziere das Bild meiner damaligen Lehrer auf seine Lehrer. Die Lehrer meiner Schulzeit hatten das Zepter in der Hand und ich hatte scheinbar nichts zu sagen. Getriggert durch diese Bilder aus meiner Vergangenheit baue ich augenblicklich ein Feindbild auf.
„Sie werden ihn von der Schule schmeißen.“
Wozu bist Du nicht in der Lage, wenn Du diesen Gedanken glaubst?
Ich bin nicht in der Lage, darauf zu vertrauen, dass alles gut ausgeht und dieses ruhige Vertrauen an meinen Sohn weiterzugeben, an ihn zu glauben und auch seinen Lehrern zu vertrauen.
Was für eine Mutter wäre ich damals gewesen, wenn ich nicht geglaubt hätte, dass sie ihn von der Schule schmeißen werden?
Wer wäre ich in der gleichen Situation ohne diesen Gedanken?
Oh, der Unterschied ist so gravierend! Mit
dem Gedanken schmiss ich ihn selbst gedanklich von der Schule. Ohne
den Gedanken hätte alles weitaus weniger dramatisch ausgesehen. Ich hätte gelassener und ohne Angst reagiert. Ich wäre für meinen Sohn da gewesen, mit dem Wissen: Wir packen das! Ohne
den Gedanken könnte ich aus meinem alten Film aussteigen. Willkommen in der Realität!
Aber da gab es ja noch einen zweiten Gedanken: „Ich will, dass mein Sohn nur Einsen und Zweien in Musik schreibt!“
Wie reagiere ich, was passiert, wenn ich das glaube?
Ich bin genauso leblos und erstarrt, wie ich es als Kind war, als der große Leistungsdruck mich strammstehen ließ und ich bin kurz davor dieses Strammstehen an mein Kind weiterzugeben und von ihm nur Leistung zu erwarten. Wenn ich glaube, ich will, dass er nur Einsen und Zweien schreibt, bin ich nicht in der Lage bei ihm zu sein und ihn auf seinem Weg unterstützend zu begleiten.
Als ich damals, auf der Couch sitzend, all diese berührenden Antworten fand, spürte ich förmlich, wie sich ein Schalter in mir umlegte, wie eine neue Bahn geschaffen wurde und ich stellte mir die abschließende Frage.
„Ich will, dass er nur Einsen und Zweien schreibt!“
Wer wäre ich in der gleichen Situation ohne den Gedanken?
Ohne den Gedanken könnten wir gemeinsam auf der Couch sitzen und uns freuen. Ja, von nun an wollte ich mit ihm das Leben feiern, egal welche Noten er bekam.
Klack! Nun war ist es deutlich hörbar. Der Schalter hatte sich umgelegt. An diesem Tag kickte ich all meine angstvollen Gedanken über Noten ins Jenseits und konnte gelassen und mit Vertrauen auf mein Kind schauen. Ich kann Euch sagen: Nicht mehr an Noten gebunden zu sein, das ist Freiheit! Und diese Freiheit kann mir niemand anderes geben.
Ich kann sie mir nur selbst geben und meinem Kind vorleben. Und was mein Kind letzten Endes daraus macht, ob es sich durch Noten unter Druck setzen lässt oder nicht, das steht nicht in meiner Macht. Auch mein Kind kann sich die Freiheit nur selbst geben.
Es war so hilfreich für mich, zu diesem Zeitpunkt mein eigenes Schultrauma zu entdecken. Da ich eine gute Schülerin war, kam ich nie auf die Idee, dass ich ein Schultrauma haben könnte. Ich hatte es völlig verdrängt. An diesem Tag sah ich meinen Schmerz zum ersten Mal und konnte mich ihm zuwenden und damit war der erste Schritt getan: die Bewusstwerdung.
Kurze Zeit später folgte ein Elternabend, auf dem mir klar wurde: Wenn ich wirklich für mein Kind da sein wollte, musste ich noch einen zweiten Schritt gehen. Auf diesem Elternabend machte der Musiklehrer auf den Ernst der Lage aufmerksam und wollte uns scheinbar erklären, am gesunkenen Notenniveau seien allein unsere faulen und unwilligen Kinder schuld. Ich saß auf meinem Stuhl und tobte innerlich: „Er übernimmt keine Verantwortung! Ich will, dass er sich mal fragt, was der Notendurchschnitt mit ihm als Lehrer zu tun haben könnte.“
Wo war mein Frieden auf einmal hin?
Wie es weiterging und wie ich im zweiten Schritt Frieden mit seinen Lehrern fand, erfährst Du im zweiten Teil
der Geschichte, der hier in Kürze veröffentlicht wird.